Persönlichkeit

Störungen der Persönlichkeits- & Sexualitätsentwicklung sowie der Geschlechtsidentität

"Das Leben kann nur in der Schau nach rückwärts verstanden werden, aber in der Schau nach vorwärts gelebt werden."

Sören Kierkegaard

Störungen der Persönlichkeit

Neue Wege in Klassifikation, Diagnostik und Behandlung

Die Konzeption von Persönlichkeitsstörungen (PS) war in den letzten Jahrzehnten eines der am kontrovers diskutierten Felder. Befürworter und Gegner dieser diagnostischen Kategorie standen einander unversönlich gegenüber und Argumente dafür oder dagegen wurden in orthodox-dichotomer Unvereinbarkeit einander vorgeworfen. Die häufig  unbefriedigenden oder wiedersprüchlichen Ergebnisse empirischer Forschung bezüglich Diagnostik, Verlauf und Behandlungsmöglichkeit dienten beiden Seiten dazu, ihre jeweilige Haltung zu untermauern bzw. die der Gegner zu entkräften.
Kritikpunkt war weniger die Frage nach der Unterscheidung von unterschiedlichen charakterlichen Eigenschaften als vielmehr die Rechtfertigung der kategorialen Einteilung in psychopathologische Störungen wie z.B. narzistische PS, zwanghafte PS, antisoziale PS oder Borderline PS. Hinzu kam die Frage nach Altersuntergrenzen für eine Diagnosestellung.
Die Forschungsbemühungen der letzten Jahre konnten jedoch zeigen, dass sich Jugendliche und Erwachsenen hinsichtlich grundlegender Aspekte von Persönlichkeitsstörungen kaum unterscheiden und damit Altersgrenzen aus dieser Sicht nicht zu rechtfertigen sind. Andererseits konnte gezeigt werden, dass die Persönlichkeitsentwicklung auch im Erwachsenenalter fortläuft und Persönlichkeitsstörungen deutlich geringere Stabilitäten aufweisen, als diesen definitorisch  zugestanden werden. Es verwundert daher kaum, dass in den beiden neuen Kassifikationswerken (DSM-5 bzw. ICD-11) neue Wege eingeschlagen wurden, um diesen Ergebnissen besser gerecht zu werden.

Sowohl das amerikanische DSM-5 (2014) wie die, von der Weltgesundheitsorganisation herausgegebene ICD-11 (2019) geben keine Altersbeschränkungen mehr für Persönlichkeitsstörungen an. Noch konsequenter als das DSM-5 weicht die ICD-11 zudem von den klassischen Begrifflichkeiten und der kategoriellen Einteilung ab. Sie präferiert eine dreistufige Diagnostik (Störungskriterien, Schweregrad, Typisierung) mit dimensionaler Beschreibung von Persönlichkeit(-sstörungen), wie sie in der Persönlichkeitspsychologie schon lange gang und gäbe ist. Mit diesem Paradigmenwechsel fallen auch ideologisch überhöhte und umkämpfte Begriffe wie "narzistisch" oder "histrionisch" zugünsten deskriptiven und empirisch valider abbildbaren Persönlichkeitstypen (z.B. negative Affektivität, Bindungsschwäche, Enthemmung).
Eine Persönlichkeitsstörung kann vergeben werden, wenn die Persönlichkeits- und Verhaltensmuster überdauernd vom gesellschaftlich erwarteten Verhalten abweichen und diese sich nicht primär durch soziale oder kulturelle Konflikte erklären. Störungen der Identität, des Selbstbilds und/oder zwischenmenschlicher Funktionen sind charakteristisch und zeigen sich unter anderem in den Gedanken, den Gefühlen, den zwischenmenschlichen Beziehungen und der Impulskontrolle. Persönlichkeitsstörungen sind mit erheblichen psychischen Belastungen oder erheblichen Beeinträchtigungen in den meisten Lebensbereichen verbunden.