"Das Leben kann nur in der Schau nach rückwärts verstanden werden, aber in der Schau nach vorwärts gelebt werden."
Die Konzeption von Persönlichkeitsstörungen (PS) war in den letzten Jahrzehnten eines der am kontrovers diskutierten Felder. Befürworter und Gegner dieser diagnostischen Kategorie standen einander unversönlich gegenüber und Argumente dafür oder dagegen wurden in orthodox-dichotomer Unvereinbarkeit einander vorgeworfen. Die häufig unbefriedigenden oder wiedersprüchlichen Ergebnisse empirischer Forschung bezüglich Diagnostik, Verlauf und Behandlungsmöglichkeit dienten beiden Seiten dazu, ihre jeweilige Haltung zu untermauern bzw. die der Gegner zu entkräften.
Kritikpunkt war weniger die Frage nach der Unterscheidung von unterschiedlichen charakterlichen Eigenschaften als vielmehr die Rechtfertigung der kategorialen Einteilung in psychopathologische Störungen wie z.B. narzistische PS, zwanghafte PS, antisoziale PS oder Borderline PS. Hinzu kam die Frage nach Altersuntergrenzen für eine Diagnosestellung.
Die Forschungsbemühungen der letzten Jahre konnten jedoch zeigen, dass sich Jugendliche und Erwachsenen hinsichtlich grundlegender Aspekte von Persönlichkeitsstörungen kaum unterscheiden und damit Altersgrenzen aus dieser Sicht nicht zu rechtfertigen sind. Andererseits konnte gezeigt werden, dass die Persönlichkeitsentwicklung auch im Erwachsenenalter fortläuft und Persönlichkeitsstörungen deutlich geringere Stabilitäten aufweisen, als diesen definitorisch zugestanden werden. Es verwundert daher kaum, dass in den beiden neuen Kassifikationswerken (DSM-5 bzw. ICD-11) neue Wege eingeschlagen wurden, um diesen Ergebnissen besser gerecht zu werden.
Sowohl das amerikanische DSM-5 (2014) wie die, von der Weltgesundheitsorganisation herausgegebene ICD-11 (2019) geben keine Altersbeschränkungen mehr für Persönlichkeitsstörungen an. Noch konsequenter als das DSM-5 weicht die ICD-11 zudem von den klassischen Begrifflichkeiten und der kategoriellen Einteilung ab. Sie präferiert eine dreistufige Diagnostik (Störungskriterien, Schweregrad, Typisierung) mit dimensionaler Beschreibung von Persönlichkeit(-sstörungen), wie sie in der Persönlichkeitspsychologie schon lange gang und gäbe ist. Mit diesem Paradigmenwechsel fallen auch ideologisch überhöhte und umkämpfte Begriffe wie "narzistisch" oder "histrionisch" zugünsten deskriptiven und empirisch valider abbildbaren Persönlichkeitstypen (z.B. negative Affektivität, Bindungsschwäche, Enthemmung).
Eine Persönlichkeitsstörung kann vergeben werden, wenn die Persönlichkeits- und Verhaltensmuster überdauernd vom gesellschaftlich erwarteten Verhalten abweichen und diese sich nicht primär durch soziale oder kulturelle Konflikte erklären. Störungen der Identität, des Selbstbilds und/oder zwischenmenschlicher Funktionen sind charakteristisch und zeigen sich unter anderem in den Gedanken, den Gefühlen, den zwischenmenschlichen Beziehungen und der Impulskontrolle. Persönlichkeitsstörungen sind mit erheblichen psychischen Belastungen oder erheblichen Beeinträchtigungen in den meisten Lebensbereichen verbunden.
Sexualität ist im Sprachgebrauch allgegenwärtig und enttabuisiert. Bereits im Vorschulbereich erfolgt eine Thematisierung schon weit jenseits der Vermittlung des „kleinen Unterschieds“ zwischen Mädchen und Jungen. Um so verwunderlicher ist es, dass kinder-
und jugend-psychotherapeutische Fachbücher und Therapiemanuale diesen
Themenkomplex oft nur am Rande aufgreifen oder erst gar nicht näher
darauf eingehen.
Geschieht dies doch, dann erfolgen die Ausführungen häufig auffällig deskriptiv-distanziert und nicht selten aus mehr oder weniger einer an dem Erwachsenenalter orientierten Perspektive. Dies betrifft insbesondere die diagnostischen Entitäten der „sexuelle Funktionsstörungen“ und der „Störungen der Sexualpräferenz“, wenngleich diese Störungen keineswegs erst für Erwachsene Relevanz haben. Etwas leichter fällt der Umgang mit dem dritten Bereich sexueller Störungen, den Störungen der Geschlechtsidentität (Geschlechtsinkongruenz des Kindesalters). Dies mag einerseits durch die häufig nach außen hin „sichtbaren“ und daher offensichtlichen Symptome (z.B. Mädchen möchte am liebsten mit Jungen raufen) erklärbar sein, könnte jedoch auch an einer Problemverbalisierung liegen, die sich weniger an Sexualität im Sinne von Lust und Fortpflanzung, sondern mehr der sozialen Rolle (Beziehungen) ausrichtet und damit kindgerechter erscheint.
Jenseits der Frage von Pedagogical Correctness ist es jedoch entwicklungspsychologisch unstrittig, dass Kinder von Geburt an bzw. sogar pränatal sexuelle
Wesen sind und die drei Hauptdimensionen von Sexualität – Beziehung,
Lust und Fortpflanzung – sowie die mit ihnen verbundenen
Herausforderungen (und Probleme) schon im Säuglings- und Kleinkindalter Bedeutung haben. Allerdings sind Erfahrbarkeit und Intention kindlicher und jugendlich-pubertärer Sexualität nicht mit erwachsener Sexualität und Sexualpräferenz gleichzusetzen! Auch fehlt in der entwicklungspsychologischen Kindheits- und Jugendforschung eine allgemein gültige und empirisch soweit möglich belegbare Erklärung der Sexualitätsentwicklung, abgesehen von den mittlerweile gut erforschten biologisch-körperlichen Meilensteinen.
Geschlechtsinkongruenz
Anhaltendes und starkes Unbehagen und Ablehnung über das zugefallene Geschlecht seit dem Kindesalter zusammen mit dem Wunsch, zum anderen Geschlecht zu gehören. Teilweise Wunsch nach hormoneller und chirurgischer Behandlung.
Sexuelle Funktionsstörungen
Mangel an sexuellem Verlangen, Probleme bei der sexuellen Erregung oder dem Orgasmus (frühzeitiger Samenerguss, Erektions- & Ejakulationsprobleme, Verkrampfung der Beckenbodenmuskulatur)
Störungen der Sexualpräferenz (Paraphilie)
Starke Impulse oder sexuell erregende Phantasien zu spezifischen Objekten, Personen oder Situationen (Fetischismus, Pädophilie, Exhibitionismus)
Zwanghaftes Sexualverhalten
Anhaltender Kontrollverlust über sexuelles Verhalten (z.B.
Pornographie) und damit einhergehende Vernachlässigung anderer Interessen oder negative persönliche oder soziale Folgen
Aus kinder- und jugendpsychotherapeutischer Sicht sind die beschriebenen Unsicherheiten und Unzulänglichkeiten sowohl in empirischer Evidenz wie auch der Begrifflichkeit nicht nur hinsichtlich Sexualität, sondern für das ganze Feld der Persönlichkeitsentwicklung mehr Regel als Ausnahme. Die Erarbeitung einer sehr vereinfachten (linearen) Entwicklungsstruktur, wie sie in der Biographiearbeit mit Erwachsenen zumindest wage möglich ist, kann bei Kindern und Jugendlichen nicht erfolgen, da die Entwicklung weder abgeschlossen ist, noch vom aktuellen Standpunkt für die Zukunft prognostiziert werden kann.
Auch wenn diese Unsicherheit ein Charakteristikum der Kindheits- und Jugendphase ist und so gesehen, viele Entwicklungswege zu einem positiven Selbstkonzept möglich sind, können emotional belastete junge Menschen diese Unsicherheiten häufig nur schwer bewältigen. Fehlen Ansprechpartner oder ein stützender psychosozialer Kontext führen sie meist zu erheblichen (Identitäts-) Krisen. Ein negativer Kreislauf aus Belastung – Krise – Lösungsversuche – Scheitern – größere Belastung – neue Krise usw. bildet sich immer weiter aus und vergrößert die Wahrscheinlichkeit von psychischen, körperlichen und sozialen Folgeproblemen.
Von diesem Blickwinkel aus ist das proaktive Ansprechen auf Unsicherheiten oder Störungen im Bereich der Sexualität psychotherapeutisch nicht nur sinnvoll, sondern entwicklungspsychopathologisch (Entstehung und Verlauf psychischer Störungen) dringend geboten. Auch unter präventiven Gesichtspunkten z.B. zur Verringerung sexueller Gewalt wäre es wünschenswert, Angebotsstrukturen nicht erst für Erwachsene bereitzustellen (vgl. das Projekt „Kein Täter werden“ der Berliner Charité für Menschen mit pädophilen Neigungen), sondern so früh wie möglich ortsnahe Therapieangebote zu ermöglichen.